Thematische Säule I

Recht und Religion (Jahr 2)

Für die Klassiker der Gesellschaftstheorie waren Recht und Religion die beiden Säulen einer jeden Gesellschaftsanalyse. Dies gilt für Max Weber, aber auch für Emile Durkheim. Während Weber auf den Prozess der Ausdifferenzierung dieser Sphären Wert legte und hierin gerade den Rationalitätsgewinn gegenüber einer Fusion von Recht und Religion sah, bleibt in Durkheims Soziologie der religions-soziologische Universalverdacht („Dans le principe tout est religieux“) bestehen, indem die religiösen Wurzeln des Rechts im Allgemeinen nachgewiesen werden. Es ist den Schülern Paul Fauconnet, Paul Huvelin und Emmanuel Lévy vorbehalten, dem religiösen Ursprung strafrechtlicher Zurechnung sowie des Zivilrechts en detail nachgegangen zu sein.

Für einen grundlegenden Zusammenhang von Recht und Religion spricht bereits die Einsicht in den „riskanten“ Charakter menschlichen Handelns schlechthin; nicht nur weil wir die Folgen unseres Handelns nicht abschätzen können, sondern weil immer wieder Unerwartetes und Unerhörtes passiert. Mit anderen Worten: Unsere Erwartungen werden ständig enttäuscht, und der Mensch ist darauf angewiesen, dass Unsicherheiten von gesellschaftlichen Einrichtungen absorbiert werden. Zivilisationen ließen sich abstrakt danach differenzieren, wie sie die Gewichte der Enttäuschungsverarbeitung verteilen, auf die Institutionen von Recht oder diejenigen der Religionen. Dabei ist auffällig, wie die strukturelle Parallele von Recht und Religion in unterschiedliche Figurationstypen mündet, die jeweils mit anderen Gewichtungen symbolische Formen, Normativität, Organisationserfordernisse und Ritualdynamiken privilegieren. Lässt sich das eigentümlich enge Verhältnis von Recht und Religion in den monotheistischen Religionen - im Judentum als rechtsförmige Fassung der Berith-Beziehung, im Islam als Verschlingung von rechtlichen, moralischen und religiösen Geboten oder in den verborgenen Spuren des Heiligen in christlich geprägten Rechtskulturen - aus der Art der Gottesvorstellung erklären, und an welche Voraussetzungen ist die wechselseitige Freisetzung der Sphären von Recht und Religion gebunden? Was bedeutet die Verschiebung der Semantik von „Verbindlichkeit“ aus der religiösen Ursprungssphäre in das Recht und schließlich in die Wirtschaft für das Verhältnis von Recht und Religion in Rechtskulturen der Moderne?

Da sich juridisches und religiös-dogmatisches Wissen heute voneinander abgeschichtet haben - Juristen sich nur zu ihrem Privatvergnügen religiöse Bildung leisten und Theologen eher im Kirchenrecht juridische Kompetenz signalisieren - liegt eine Aufgabe des Kollegs darin, Religionswissenschaftler und Theologen, die an Fragen des Rechts interessiert sind, mit ihren Kompetenzen auf dem Gebiet der historisch-systematischen Religionsforschung für eine kulturwissenschaftliche Rechtsanalyse zu gewinnen. Zugleich bleibt der Tatbestand zu reflektieren, dass Rechtskulturen, denen die Trennung von Recht, Religion und Moral nicht im okzidentalen Sinne eigen ist - wie beispielsweise der traditionelle Islam - zwar eine Klasse von Juriskonsulten hervorbringen konnten, die mit Recht und Religion vertraut sind, jedoch keine reflexive Beobachtung von Recht einerseits und Religion andererseits als spezialisierte Fachdisziplinen. Einheit und Differenzierung der Sphären von Recht und Religion erschließen sich daher erst im kulturvergleichenden Blick, der zugleich eine Weichenstellung der jeweiligen Zivilisationen markiert: von der Gesetzesreligion im antiken Judentum bis zur Theologie des modernen Rechtsstaates.

Das zweite Forschungsjahr wäre entsprechend um diesen Themenkomplex zu zentrieren, indem Kultur- und Rechtswissenschaften, aber auch Religionswissenschaften und Theologien ihre jeweiligen Kompetenzen auf die Grenzziehungs- und Wechselwirkungsprozesse von Recht und Religion konzentrieren.