Querschnittsdimension A: Differenzierungskulturen und Rechtskulturvergleich

Gesellschaften gewinnen durch ihre spezifischen Differenzierungsmuster erst ihre jeweils eigene Form und Gestalt. Eine der Grundfragen der Differenzierungstheorie war deshalb nach Weber, „welche Sphären und in welcher Richtung sie rationalisiert wurden“. Die Theoriebildung nach Weber hat dieser Frage nur randständig Aufmerksamkeit gewidmet; mit Blick auf neuere Entwicklungen des Differenzierungsdiskurses, die Sphären nicht vorrangig hinsichtlich abstrakter Systemlogiken, sondern als Praxishorizonte und Handlungsfelder in den Blick rücken, gewinnt sie allerdings wieder verstärkt an Relevanz. Was genau jeweils als wirtschaftliche oder moralische Frage diskutiert wird, wo die Grenzen zwischen Recht und Religion verlaufen, und in welche Richtungen formale und materiale Rationalisierungsprozesse führen, welche Tatbestände in welchem Umfang politisiert oder auch ästhetisiert werden, und auf welche kulturellen Grundlagen diese und andere Grenzziehungen verweisen – all diese Fragen sind nur auf dem Wege einer kulturvergleichenden Differenzierungsanalyse zu beantworten. Es sind Fragen dieser Art – und transzivilisatorische Differenzen hinsichtlich der damit benannten Vergleichsgesichtspunkte – die wir hier mit dem Konzept von ‚Differenzierungskulturen‘ zu adressieren suchen.
Diese Grundfragen der Gesellschaftstheorie haben gravierende Auswirkungen auf den Platz, den man der rechtlichen Sphäre in den Zonen der globalen Gesellschaften zuweist. Daher muss die fundamentale Frage nach dem Ort des Rechts im Differenzierungs- und Verflechtungsgefüge von Gegenwartsgesellschaften erneut aufgegriffen werden. Was wird in unterschiedlichen kulturellen Kontexten jeweils als „Recht“ codiert, und mit welchen Sphären konkurriert das Recht jeweils direkt oder indirekt um Deutungshoheiten? Ist das Recht vielleicht auch so etwas wie ein „Hüter“ der Differenzierungsordnung, oder gar das Medium, in dem die Grenzlinien zwischen den Sphären gezogen und ausgehandelt werden? Und wenn dem so sein sollte – wie lässt sich das Recht gleichzeitig als Form und Medium dieser Aushandlungsprozesse und als eigenständige Sphäre konzipieren, die in der ihr unterworfenen Vielfalt von Ordnungen selbst wieder vorkommt? Die Beschäftigung mit Recht als Kultur – gerade im gesellschaftsvergleichenden Sinne – beginnt vor diesem Hintergrund mit der Verhältnisbestimmung der jeweiligen Rechtssphäre zur Wirtschaft, zur Politik und zur Gemeinschaft, die in vermutlich auf religiöser Prägung beruhenden Modellen der ‚richtigen‘ Gesellschaftsordnung kulturell variant sind. Um der Verankerung einer Aufteilung der Welt in Teilbereiche, Sphären, Felder usf. nachzugehen, muss es uns gelingen, für die Weltbilder zu sensibilisieren, die solche Scheidungen und Unterscheidungen in je unterschiedlicher Weise hervorbringen – und zwar nicht zuletzt identitätsstiftende Rechtsbilder, die sich in Rechtskulturen verdichten. Auf diese Weise wird zugleich deutlich, dass Fragen nach der kulturellen Ausgestaltung von Recht und solche nach strukturellen Differenzierungsmustern von Gesellschaften nicht isoliert voneinander betrachtet werden können.
Insofern weist die am Kolleg betriebene ‚Rechtsanalyse als Kulturforschung‘ an diesem Punkt eine besondere Relevanz für die Rechtswissenschaften auf, für die dem Verhältnis von Rechtskulturvergleich und klassischer Rechtsvergleichung zunehmend eine entscheidende Bedeutung zukommt. Die juristische Rechtsvergleichung, ursprünglich als législation comparée begriffen, hat sich seit Ernst Rabel – ganz im Gegensatz zur kulturhermeneutischen Ausrichtung – zur funktionalen Rechtsvergleichung entwickelt, die jenseits der jeweiligen dogmatischen Struktur auf die soziale Funktion von Regelungen abstellt. An ihre Seite sind seit einiger Zeit die Rechtskulturvergleichung bzw. comparative legal cultures getreten, die jedoch aufgrund der kulturellen Bedingtheit des Rechts einer Rechtsvereinheitlichung insgesamt skeptisch gegenüberstehen. Die juristisch anvisierten großen Prozesse der Entwicklung von Einheitsrecht haben bislang kaum Anschluss an die kultur- und sozialwissenschaftliche Rechtskulturvergleichung gefunden. An einer übergreifenden theoretischen und methodischen Reflexion der sich im Zusammenhang von Harmonisierung, Angleichung und Vereinheitlichung stellenden Fragen fehlt es bislang weitgehend; hier gilt es, einerseits einen die juristischen Teildisziplinen übergreifenden Diskurs in Gang zu setzen und andererseits kultur- und geisteswissenschaftliche sowie juristische Rechtsvergleichung in einen intensiveren Austausch zu bringen. Auf einer Meta-Ebene stünde die Erforschung eigener Rechtskulturen der Rechtsangleichung oder -vergleichung auf dem Programm.
Aus juristischer Perspektive ist das Ziel hierbei, bei der Setzung oder Gewinnung von Recht, sei es auf nationalstaatlicher Ebene, auf supranationaler Ebene oder durch Private, sowie bei seiner Anwendung und Durchsetzung, stärker von den Erträgen der Rechtskulturvergleichung zu profitieren. Auf nationaler Ebene stehen dabei Rechtsrezeption und Rechtstransfer mit dem Phänomen der legal transplants im Fokus, auf europäischer oder internationaler Ebene Rechtsangleichung und Vereinheitlichung, wie sie auf rechtsvergleichender Grundlage durch supranationale Organisationen, aber mit der Entwicklung von Principles auch durch Wissenschaftlergruppen erfolgen. Der rechtskultur-vergleichenden Perspektive kommt darüber hinaus auch im Rahmen der Rechtsanwendung Bedeutung zu, sei es in transnationalen Sachverhalten, etwa bei der Konkretisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen wie dem des Kindeswohls im Familienrecht oder der Erfassung von Unrecht und Schuld im Strafrecht, sei es bei der Auslegung von Einheitsrecht, das letztlich als Mischrechtsordnung zu begreifen ist. Eine zentrale Rolle spielt der Vergleich schließlich im Hinblick auf die Rechtsverwirklichung, die durch unterschiedliche Streitkulturen geprägt ist (kontradiktorisches Verfahren, Mediation, Schlichtung).