Julia Mehlich (Moskau/Bonn): Die Begegnung von Rechtsnihilismus, Kommunitarismus und liberalem Recht. Kultur und Geltungstheorie in Russland

Abstract

Liberalismus, Kommunitarismus und Rechtnihilismus in Russland werden aus der Perspektive ihrer kultur- und ideengeschichtlich bestimmten Eigentümlichkeit untersucht. In der Gegenwart vollzieht sich eine paradoxe Annäherung von Liberalismus und Kommunitarismus mit ihrem jeweiligen als gegensätzlich wahrgenommenen Rechtsverständnis des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. In der russischen Rechtsphilosophie wird diese Paradoxie scheinbar verstärkt durch den Rückgriff der liberalen Vertreter der transzendentalen wert- und normbildenden Theorie Heinrich Rickerts und der Petersburger sozialpsychologischen Rechtsschule Leon Petrażyckis, unter ihnen Sergei Hessen, auf die All-Einheitslehre des Rechtnihilisten Wladimir Solowjow. So übernimmt Hessen den von Lew Karsawin eingeführten Begriff der „kollektiven Persönlichkeit“ (oder „kollektiven historischen Individualität“), der seinerseits aus dessen auf der All-Einheitslehre gründenden personalistischen Philosophie hervorgeht. Hessen behauptet nicht, den Individualismus durch den Kollektivismus zu ersetzen, sondern strebt ausdrücklich eine „Erweiterung des Prinzips des Individualismus“ an. Das Paradox der Annäherung von Liberalismus und Kommunitarismus erfährt so eine durchaus rationale Erklärung

Prof. Dr. Julia Mehlich

Curriculum Vitae

Julia Mehlich ist Professorin am Lehrstuhl für Philosophie der naturwissenschaftlichen Fakultäten der Staatlichen Lomonosov-Universität Moskau. Nach dem Studium der Philosophie an der Belarussischen Staatlichen Universität Minsk wurde sie 1994 mit ihrer Dissertation „Analyse der theoretischen Ansätze und konzeptionellen Vorstellungen zu ,Frieden‘, ,Gewalt‘ und ,Konflikt‘ in der bundesdeutschen Friedensforschung“ an der Humboldt Universität zu Berlin promoviert. 2002 habilitierte sie sich am Institut für Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau mit einer Arbeit über den personalistischen Inhalt der Philosophie L. P. Karsavins. Professorin Mehlich war von 2004 bis 2005 im Rahmen eines Senior Fulbright Scholarship an der Stanford University und 2008 im Rahmen einer DFG-Förderung am Slavischen Institut der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg tätig. Zudem forschte sie von 2009 bis 2010 im Rahmen eines EU-Stipendiums am Institut für Slavistik der Technischen Universität Dresden. 2014 war sie Gastprofessorin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und an der Pontifícia Universidade Católica do Rio Grande do Sul / Universidade Federal do Rio Grande do Sul in Porto Alegre, Brasilien. Nach einem ersten Forschungsaufenthalt am Käte Hamburger Kolleg "Recht als Kultur" von Januar bis Juli 2016 ist sie seit Januar 2018 erneut Fellow.