Carl Baudenbacher (Luxemburg/St.Gallen): Brexit: Die Suche nach dem Ei des Kolumbus

Abstract

Die Regierung Ihrer Majestät hat ihre Position für die Brexit-Verhandlungen einstweilen dahin festgelegt, dass sie einen harten Brexit, d.h. auch einen Austritt aus dem Binnenmarkt, anstrebt. Im Vordergrund stehen zwei Ziele: Beendigung der Personenfreizügigkeit und der Zuständigkeit des EuGH für Grossbritannien. Für die Zukunft soll ein massgeschneidertes („bespoke“) Freihandelsabkommen für Waren und Dienstleistungen mit der Rest-EU abgeschlossen werden. Das Abkommen soll auf eine tiefe Integration gerichtet sein und den britischen Akteuren den grösstmöglichen Zugang zum Binnenmarkt gewährleisten. Die Streitbeilegung soll in den Händen eines Schiedsgerichts liegen, dessen Sprüche freilich keine Direktwirkung haben sollen.

Wenn sich der Abschluss eines solchen Abkommens als unmöglich erweisen sollte, so will die britische Regierung einfach aus der EU austreten. Für diesen Fall stellt sie einen scharfen Systemwettbewerb vor allem bei den Steuern in Aussicht.

Die Regierungen von Wales und Schottland sowie zahlreiche Parlamentarier und Wirtschaftsverbände plädieren demgegenüber für einen weichen Brexit, bei dem das Vereinigte Königreich im Binnenmarkt verbleibt. Es ist in der Tat fraglich, ob ein umfassendes und tief gehendes Freihandelsabkommen ohne Überwachungs- und Gerichtsmechanismus abgeschlossen werden kann. Damit rückt das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum in den Fokus. Denkbar sind drei Modelle: Das bestehende EWR-Abkommen (mit den Institutionen des EFTA-Pfeilers, der EFTA-Überwachungsbehörde [ESA] und dem EFTA-Gerichtshof), ein ergänztes EWR-Abkommen (allenfalls mit einem neuen Namen) und ein massgeschneidertes Abkommen mit Andocken an die Institutionen des EFTA-Pfeilers. Im Falle des Andockens müsste das Vereinigte Königreich das Recht aushandeln, in den das Land betreffenden Fällen ein Kollegiumsmitglied der ESA und einen Richter am EFTA-Gerichtshof zu stellen.

Der Referent wird auf die Besonderheiten der Gerichtsverfassung des EFTA-Pfeilers ebenso eingehen wie auf das Fallrecht seines Gerichtshofs einschliesslich des Menschenbildes, der wirtschaftsrechtlichen Ausrichtung und des wettbewerbspolitischen Leitbildes.

Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. h.c. Carl Baudenbacher ist Präsident des EFTA-Gerichtshofs in Luxemburg und Direktor des Center for European and International Law an der Universität St. Gallen HSG. Neben seiner langjährigen Lehrtätigkeit im Privat-, Handels- und Wirtschaftsrecht war er zunächst von 1994 bis 1995 Mitglied des Fürstlichen Obersten Gerichtshofs von Lichtenstein und ist seit 1995 Richter des EFTA-Gerichtshofs, dessen Präsident er seit 2003 ist. Carl Baudenbacher war Experte des Schweizerischen Bundesrats sowie des National- und Ständerats in Fragen des Urheberrechts, des Kartellrechts und der Europapolitik. Darüber hinaus war er als Berater verschiedener ausländischer Regierungen sowie  als Gutachter und Schiedsrichter tätig. Er hat mehr als 40 Bücher und 270 Aufsätze veröffentlicht.