Dieter Gosewinkel (Berlin/Bonn): Staatsbürgerschaft – ein Fragment europäischer Rechtskultur?

Abstract

Die Staatsbürgerschaft verkörpert ein politisches Ideal, dem normative Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit, Partizipation und Selbstbestimmung zugrunde liegen. Als Institution des europäischen Rechts hingegen ist sie von fundamentaler Ambivalenz gekennzeichnet. Staatsbürgerschaft war und ist ein Status der Mitgliedschaft, der konstitutiv auf ein Innen und Außen, auf den Einschluss ebenso wie auf den Ausschluss angelegt ist. Gezeigt wird, wie sich seit dem 19. Jahrhundert die Staatsbürgerschaft zu einem Instrument der Grenzziehung zwischen Staatsangehörigen und Ausländern entwickelte und über Rechte entschied, die nicht selten die Lebens- und Überlebenschancen eines Individuums bestimmten. Nach Phasen der Nationalisierung und Ethnisierung , der diktatorischen Unterdrückung sowie kolonialer und post-kolonialer Diskriminierung zeichnet sich mit der europäischen Wende 1989 eine neue Entwicklung ab:  Aus den Brüchen der europäischen Rechtsgeschichte seit dem 20. Jahrhundert treten die Konturen der Staatsbürgerschaft als einer verbindenden Institution europäischer Rechtskultur, des Ius Publicum Europaeum, hervor.

Prof. Dr. Dieter Gosewinkel
 

Curriculum Vitae

Dieter Gosewinkel promovierte nach Studienabschlüssen in den Fächern Jura und Geschichte (Universitäten Freiburg im Breisgau und Genf) im Jahre 1990 mit einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation zum Thema „Adolf Arndt. Die Wiederbegründung des Rechtsstaats aus dem Geist der Sozialdemokratie (1945-1961).“  Nach  Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für öffentliches Recht der Universität Freiburg und am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin habilitierte er sich dort 2000 im Fach Geschichte mit der Arbeit „Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland“.  Nach der Leitung einer Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für europäische  Rechtsgeschichte, Frankfurt a.M., ging Dieter Gosewinkel 2002 an das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, wo er gemeinsam mit  Jürgen Kocka und Dieter Rucht Forschungsgruppen zu den Themen Zivilgesellschaft und Staatsbürgerschaft leitete und zudem über europäische Verfassungsgeschichte arbeitete. Seit 2010 ist er am WZB  Co-Direktor des Center for Global Constitutionalism sowie Professor (associate professor)  für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin. Er hatte Gastprofessuren am Europäischen Hochschulinstitut Florenz, an Sciences Po Paris (Alfred-Grosser-Lehrstuhl) sowie an der Universität Paris VIII  inne und war Fellow unter anderem am St Antony’s College der Universität Oxford, am Max-Weber-Kolleg in Erfurt sowie am Institut d’Études Avancées Paris. Gerade erschien ist sein Buch „Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert“ (Suhrkamp Verlag  Berlin 2016).