Tagung: The normative complex: Legal cultures, validity cultures, normativities

Ohne Übertreibung lässt sich von einer Wiederentdeckung der normativen Dimension des sozialen Lebens sprechen. Während für Parsons die normative Lösung des Ordnungsproblems zumindest eine Orientierung im unübersichtlichen Feld der Gesellschaftstheorie liefern sollte, hatten sich zahlreiche Ansätze in den Sozial- und Kulturwissenschaften eher aus diesem Diskurs ausgeblendet. So ist auch in den neueren kulturtheoretischen Zugriffen auf die Welt von Recht und Normativität nur randständig die Rede.

Gleichzeitig erstarkt innerhalb der traditionellen Disziplinen, die sich mit Fragen der normativ-rechtlichen Gestaltung des Lebens befassen, also in der Jurisprudenz, der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie und auch der Rechtsgeschichte, ein Bedürfnis, sich mit den Grundfragen der normativen Welt erneut und in anderer Weise auseinanderzusetzen.

Dabei sind es unmittelbar benennbare Gründe, die eine erhöhte Aufmerksamkeit für das „Reich des Normativen“, wie es Foucault genannt hatte, erforderlich machen: die Verschiebung der normativen Gewichte vom Nationalstaat in transnationale Rechts- und Geltungsräume, vereinfacht: Globalisierungsprozesse. Die gleichzeitige Zunahme personaler Geltungsordnungen, die ein kulturell geprägtes Partikularrecht wieder aufleben lassen, erhöht die objektive Möglichkeit, dass Begegnungen der Rechtskulturen nicht nur dialogisch, sondern auch konfliktuell verlaufen. Dann ist es nicht allein eine Frage der moralischen „Anerkennung“ des Anderen, sich mit seiner Normwelt überhaupt vertraut zu machen, sondern Voraussetzung einer interkulturellen Kommunikation im Medium des Rechts. Kognitive Kompetenzen über rechtskulturelle Eigenarten und Differenzen sind also nicht nur für Spezialisten, die Juristenausbildung, sondern für Wirtschaftsakteure und politische Akteure, aber auch für das gelingende Alltagsverhalten von außerordentlichem Belang.

Das Tagungsprogramm stellt den Versuch dar, namhafte Wissenschaftler unterschiedlicher Theorie- und Regionalprovenienz zur Diskussion dieser grundlegenden Fragen ins Gespräch zu bringen. Unter dem offenen Konzept des „normativen Komplexes“ sollen daher Diskurse über Rechtskulturen, Geltungskulturen und Normativität zusammengeführt werden. Dies setzt voraus, einen theoretisch geschärften Blick auf das Konzept der Rechtskulturen zu werfen, das seit den Arbeiten von Friedman, Cotterrell und insbesondere von David Nelken eine Schlüsselstellung in der Analyse von juridisch-normativer Diversität einnimmt. Inwieweit der Begriff der „Geltungskulturen“ sich als ein neues Konzept anbietet, um Rechtskulturen nach ihrem jeweiligen Geltungsmodus zu sortieren und mit einer weiterreichenden explanatorischen Kraft auszustatten, soll im Anschluss diskutiert werden. Inwiefern von „Normativitäten“ als Substitut, Ergänzungskonzept oder einbettender Semantik die Rede ist und das „Reich des Normativen“ in sich differenziert werden kann, soll im Rahmen unserer Fragestellung erörtert werden. Was aber die eigentümlich bindenden Kräfte eines normativen Geltungsanspruchs ausmacht, was die „force du droit“ im Sinne Bourdieus oder die „deontic power“ (John Searle) letztlich ausmacht, ist für säkulare Geltungskulturen, die sich von religiösen Geltungsquellen und ihren transzendenten Kräften abgeschnitten haben, von besonderer Bedeutung. Damit gelangen wir zu einer im 19. Jahrhundert gepflegten Selbstverständlichkeit zurück, dass die „Ordnungen“, wie Max Weber in dem aufs Recht bezogenen Teil von Wirtschaft und Gesellschaft formuliert (MWG I/22-3), eben nicht nur das Recht, sondern ebenso Sitte und Konvention umfassen. Von Elias her gedacht sind „Manieren“ ebenso miteinzubeziehen wie die zumeist als der wissenschaftlichen Beachtung nicht würdige Art des temporären Geltungsanspruchs: die Mode.

Im Lichte dieser Diskussionen sollten wir uns sehr pragmatisch der Frage stellen, inwieweit wir uns unter einen Zwang zur theoretischen Synthese setzen wollen oder aber den doch stark vermuteten normativen Pluralismus auch auf die „Regeln des Geistes“ (Descartes) anwenden müssen, ohne hierbei ins offene Messer der Beliebigkeit zu laufen.

Werner Gephart

 

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