Alain Supiot - „Homo Juridicus: La fonction anthropologique du droit“

In der Dialektik von Autonomie und Heteronomie, die aus der Doppelnatur des Menschen als metaphysisches Tier resultiert, konvergieren nach Alain Supiot die Normativität von Sprache und Recht: Die anthropologische Funktion des Rechts zeigt sich darin, dass es uns mit anderen Menschen durch eine gemeinsame Welt der Bedeutung verbindet und auf diese Weise als rationale Wesen institutionalisiert. Durch die Transformation in einen „homo juridicus“ werden die biologische und symbolische Dimension des Menschen miteinander verknüpft, indem die Konstruktion der Rechtsperson nach Supiot das Verbot ausspricht, die menschliche Doppelnatur einseitig zu reduzieren. In seiner anthropologischen Funktion, mittels einer Technik des Verbots eine die Individualperspektive transzendierende Bedeutung zu stiften, tritt das Recht in der westlichen Welt das Erbe der Religion an. Das Recht darf aber nicht als eine Technik zu beliebigen Zwecken missverstanden werden, sondern repräsentiert eine von einer Gemeinschaft geteilte Idee der Gerechtigkeit, die als Dogma jedem Rechtssystem zugrundeliegt. In der dogmatischen Natur des Rechts sieht Supiot daher die Bedingung der Möglichkeit des friedlichen und freiheitlichen Zusammenlebens von Menschen. In der Begegnung von Rechtskulturen im Prozess der Globalisierung ist es geboten, sich dieser dogmatischen Quellen des Rechts durch Techniken der Interpretation zu vergewissern, um nicht im Namen eines universalen Rechts einen neuen, westlichen Fundamentalismus zu propagieren.

Prof. Dr. Alain Supiot ist Professor für Sozialrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Nantes und Direktor des Institut d’Études Avancées de Nantes. Er ist Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher, u. a. L'esprit de Philadelphie: La justice sociale face au marché total (Éditions du Seuil, Paris 2010), Le droit du travail (Presses universitaires de France, coll. „Que sais-je ?“, Paris 2006), Homo juridicus: essai sur la fonction anthropologique du droit (Éditions du Seuil,  Paris 2005).