Olivier Jouanjan: Verfassungsrechtswissenschaft in Deutschland und Frankreich um 1900: eine komplizierte Beziehung

Abstract

Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist ein magischer Zeitpunkt in der Geschichte der deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen.  Während Claude Digeon in seinem berühmten Werk «La crise allemande de la pensée française» eine krisenbefördernde Dominanz des deutschen Denkens in Frankreich nach dem für Frankreich verlorenen Krieg von 1870/71 konstatiert, gibt es durchaus Rezeptionsströme, die von Frankreich nach Deutschland weisen. 

Wie stand es um das Verfassungsrecht und damit auch um das Verhältnis der beiden „Verfassungskulturen“ – ein zentrales Thema des Kollegjahres?

Wissenschaftliche Diskurse über „Verfassungsrecht“ traten erstmals in Deutschland im 19. Jahrhundert in Erscheinung. Ziel war es, eine Wissenschaft des Verfassungsrechts zu etablieren, die in strikter Abgrenzung zum damaligen verfassungspolitischen Diskurs stand. Dabei verhalf erstmals die „Gerber-Laband Schule“ diesem Vorhaben eines „echten wissenschaftlichen Staatsrechts“ mit der Entwicklung der positivistisch gefassten „juristischen Methode“ zur Geltung. Weitestgehend unbekannt ist in diesem Zusammenhang, dass die neue deutsche Staatsrechtslehre bei der Gründung einer rivalisierenden französischen Verfassungsrechtslehre um 1900 eine große Rolle spielte (dies gilt für: Adhémar Esmein, Léon Duguit, Maurice Hauriou, Raymond Carré de Malberg).

Prof. Dr. Olivier Jouanjan wird in seinem Vortrag nachzeichnen, wie sich die deutsche Staatsrechtslehre des 19. Jahrhundert auf das europäische und insbesondere auf das französische Verfassungsrecht ausgewirkt hat. Dabei wird er insbesondere auf die komplizierte und zum Teil sehr einseitige Beziehung zwischen den deutschen und französischen Vertretern des Verfassungsrechts eingehen, die jedoch immerhin für die Entwicklung des französischen Verfassungsrechts konstitutiv war.

Curriculum Vitae

Prof. Dr. Olivier Jouanjan ist einer der bekanntesten Verfassungsrechtler Frankreichs. Er war an den Universitäten Burgund, Dijon und Straßburg tätig, bevor er im Jahre 2014 den Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Université Panthéon-Assas (Paris II) übernahm. Seit 2004 ist er zudem Honorarprofessor an der Universität Freiburg im Breisgrau. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Öffentliche Recht im Allgemeinen, über dies wird er als Kenner des deutschen Verfassungsrechts geschätzt. Rechtstheorie und juristische Methodenlehre sowie die Geschichte des juristischen Denkens gehören zu seinen weiteren Forschungsschwerpunkten. Aufgrund seiner Kenntnisse des deutschen Rechts gilt er als wichtiger Mittler zwischen der deutschen und französischen Rechtslehre. Im Jahre 2010 wurde er in die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer aufgenommen.

Seit Mai 2017 ist Prof. Dr. Jouanjan Fellow am Käte Hamburger Kolleg „Recht als Kultur“, Bonn.